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Stilistik oder Geschmacksfrage – was ist Belcanto eigentlich?

Ein Kommentar von Petra Wolf-Perraudin

Nach Ansicht mancher Autoren gab es bereits seit Verdi keinen Belcanto-Stil mehr.

In diesem Zusammenhang sollten wir einen tieferen Einblick in die Musikgeschichte wagen und hinterfragen, warum und auf welche Weise sich die Gesangs-Stilistiken ändern konnten und sich verändert haben, denn über die Jahrhunderte haben Nachfrage, Mäzenatentum und Neuerungen der Musikpraxis historisch immer wieder zu einem epochalen Wandel der „Moden“ von Aufführungspraxis und Stilistik des Belcanto-Gesanges geführt.

Dabei möchte ich aus meiner Perspektive des ausgebildeten und studierten Sänger-Profis heraus anmerken, dass sich zwar die kompositorische Stilistik des Belcanto mit Verdi verändert hat, nicht jedoch die Grund-Forderungen an die Ausführungspraxis des Gesangs, die einen sehr frühen musikalisch begründeten Ursprung hat.

Die im 17. – 18. Jhrdt aufblühende Hochkultur des Belcanto wurde von besonderen Gesangsfähigkeiten der Kastraten bestimmt und stilistisch mit akrobatischen Ausführungen von Verzierungen, Skalen und Allegorien in höchster Vollendung praktiziert.
Der letzte Komponist des 19. Jhrdt, konservativer Vertreter der Koloratur-Stilistik dieser ehemaligen Belcanto-Kastratenkunst, der diese ein Jahrhundert später wieder bestätigte, war Rossini. Mit Rossinis Wiederbelebung des „alten Belcanto-Stils“, des Belcanto rossiniane, entstanden – wie immer in der Musikgeschichte so auch bei Rossini selbst – periodische Wandlungen durch „Gegenströmung“.

Durch das Auftreten entgegengesetzt gerichteter Strömungen im Zeitenwandel des Musiklebens in der Musikkultur entstand Dynamik, was stets Stilwandel der Komposition und Entwicklung der Musikgeschichte bedeutete. Immer wieder zeigte sich entgegengesetzte Entwicklung zur jeweils bestehenden Situation und eine neue stilistische Strebung zugunsten des aktuellen Zeitgeschmacks – nun allerdings wieder in eine andere Richtung der Kompositionsweise der Mode unterworfen.

Entgegengesetzt zu Rossini wurden nun also wieder die alten „Bräuche“, wie eine Kehlfertigkeit für Koloratur nach Stilvorstellungen der Kastraten, für „überholt“ erklärt, was von manchen Kennern – einschließlich Rossini – als Untergang der Gesangskultur beklagt wurde.

Auch Bellini veränderte die Schwerpunkte der Opernkompostion der italienischen Romantik und führte zu einem Wandel weg vom alten filigran verspielten Stil, hin zu großer Melodik mit inhaltlichem Realismus, Charakterdarstellungen, großer Dramatik und Emotionalität.

In der Mitte des 19. Jhrdt vor und während der Zeit Rossinis galt in Italien die Bedeutung der Koloratur als dramatisches Stilmittel der Komposition als nicht mehr zeitgemäß. Stattdessen entwickelte sich seit dem Kompositionsstil Donizettis eine neue Dramatik mit großen Gesangsbögen, “athletischeren” Anforderungen an die sängerisch-physische Konstitution, Leistungsfähigkeit und den Sänger-Impetus.
Nur eine zeitgemäße Weiterentwicklung der Belcanto-Stilistik zu einer anderen Form konnte dem Werk und dem Zeitgeschmack interpretatorisch und musikalisch gerecht werden.

Rossini, selbst einst ausgebildeter Sänger, war als „Retro-Trendsetter“-Komponist des 19. Jhrdt. ein Verfechter des Belcanto-Stils des 17. u. 18. Jhrdt „Prima la musica e poi le parole“ lautete seine Forderung für die Opernkomposition, was soviel heißt, die Behandlung der Gesangslinie solle in ihrer Wichtigkeit der Deklamation des Wortes „voranstehen“.

In einem Brief an Luigi Crisostomo Ferrucci am 23.3.1866 beklagt sich Rossini über das Verschwinden des Belcanto mit der hohen Kastraten-Gesangskultur Mitte des 19. Jhrdts wie folgt:

„… Jene Verstümmelten, denen keine andere Laufbahn als die des Gesanges offen stand, waren die Begründer des > cantar che nell’anima si sente < (des Singens, das man in der Seele spürt). Mit ihrem Verschwinden setzte der horrende Verfall des belcanto italiano ein.“

Zwei Jahre später schreibt Rossini an Filippo Filippi am 26.8.1868 über die derzeit beklagenswerte, emotionslose Gesangskunst:

„Einen gewissen Verfall der Gesangskunst kann ich nicht leugnen, neigen doch die, die sie neuerdings pflegen, eher zu Wasserscheu, als zum  „Italo dolce cantar che nell’anima si sente”.

 

In einem weiteren Brief an Franceso Florimo, zitiert von Radiciotti 1927, beklagt sich Rossini über die entgleiste Entwicklung der Gesangskunst, Dramatik und Interpretation des frühen 20. Jhrdt:

„Die heutige Gesangskunst ist auf die Barrikaden gestiegen; den alten, ausgezierten Gesang ersetzte man durch einen nervösen, den feierlichen durch Schreie, die man sonst französisch nannte, das Herzlich-Sentimentale durch eine leidenschaftliche Scheu vor Tränen.”

Jedoch das „Italo dolce cantar che nell’anima si sente” verschwand nicht wirklich, sondern fand sich in der Folgezeit, wie auch 100 Jahre zuvor bei dem Reformer Gluck innerhalb koloraturfreier Passagen seiner herrlichen großbogigen Arien.
Dabei ist „der berührend süße Gesang aus tiefster Seele heraus“ ein Belcanto-Modus, der bei weitem nicht jedem Sänger liegt.

Nun zum Kern der notwendigen Voraussetzungen für die authentische Ausführbarkeit italienischer Gesangsstilistik „aus der Seele heraus“.
Diese benötigt die Fähigkeit zur Empfindung der italienischen Weise von offener Emotionalität, das Erkennen des Modus der Empfindsamkeit.
Bedeutsam ist auch das Verständnis für die Übernahme kultureller Werte und Gepflogenheiten des Landes, die sich in der musikalischen „Sprache“ und emotionalen Ausdruck wiederfinden:
der Stimmästhetik, Tradition der Stimmausbildung, Stimmsitz und musikalischen Maßstäbe und kulturelle Maßstäbe des Ursprungslandes dieser Jahrhunderte langen Gesangstradition.

Ein regional bedingter, kultureller Entwicklungsstand von Gesang, Operngeschichte oder Repertoire macht für den Interpreten die Erarbeitung eines Kenntnis- und Verständnisstandes erforderlich, der ein Einhalten von Ausführungsregeln und Ausüben kultureller Werte glaubwürdig widerspiegeln lassen kann, zugunsten einer authentischen, ehrlichen Interpretation.

Als durch und durch überzeugter Italiener suchte Verdi in seinem Kompositionsstil seine eigene Vorstellung einer „neuen Dramatik“ der musikalischen Aussage des großen Gesangsbogens zu verwirklichen, indem er Melodik, Emotion und Empfindung sowie die Eigenschaften der klangvollen italienischen Sprache getreu des italienischen Sprachductus’ in seiner Musik auf natürliche Weise zu verbinden suchte.

In Einigkeit mit der Idee Glucks Generationen vor ihm, jedoch ohne eine Reformbestrebung, wollte sich Verdi gegen den kompositorischen Manierismus seiner Vorgänger abgrenzen. Zitat Verdi:

„Melodien lassen sich nicht mit Scalen, Trillern oder Verzierungen machen … die Cavatinen aus dem „Barbier“, das sind keine Melodien, … nicht einmal ordentliche Musik!”

Das zentrale Belcanto-Stilmittel einer großbogigen Gesangslinie entspricht dem zentralen Stilmittel des Belcanto im 19. Jhrdt: der Cantilene.
In den Vokal-Kompositionen Bellinis, Donizettis und Verdis wurde die Cantilene in zentraler Position großer melodischer, sowie musikdramatischer Passagen verarbeitet.

Mehr zum Kompositionsstil Verdis:
Im Gegensatz zu seinen Vorgängern arbeitete Verdi mit anderen dramatischen und rhythmischen Akzenten.
Harmonische Charakterisierungen finden sich in seinem Spätwerk.
Sein neuer Stil forderte im krassen Gegensatz zur Koloratur- und Verzierungskunst des Belcanto-Zeitalters mehr Realität in einer großen Dramatik seiner Opera Seria.
Das bedeutete eine große Vielfarbigkeit der Emotion und musikalische Vielgestaltung der Figuren, große Dynamik des orchestralen Parts entsprechend der Handlung des Librettos.

Trotz erhöhter Dramatik gibt es in der Verdi-Opernkomposition ausreichend Passagen für geforderte belcantistische Qualitäten, die sich auf die Cantilene beziehen, nun ohne Koloratur und Kadenz, den Stil des Belcanto verdiane.
Es ist nur ein anderes “cantar che nell‘ anima si sente“, das stimmliche Weichheit und gekonnte Linie des Legato, aber auch ausreichend Beweglichkeit im Rahmen einer neuen Dramatik fordert.

Das Anforderungsprofil eines Verdi-Sängers bedurfte eines anderen Stimmtypus’, fähig zu einer gesanglich-darstellerischen Umsetzung der Rollen mit einer neuen, dramatischen Expressivität – als „Verkörperer“ der Rolle in ihrer „echten“, fühlbar darzustellenden Seelenlage.
Dieser sollte zur dramatisch farbigen Darstellung mit der sängerischen Kapazität von Stimme und Atem fähig sein.
Der Anspruch an eine körperreiche Verdi-Stimme, des Verdi-Sängers, wurde selbstverständlich.
Verdi wählte für seine Premieren bevorzugt Sänger mit entsprechenden Eigenschaften, darunter auch … man höre und staune … eine deutsche Sopranistin mit italienischer Ausbildung, Theresa Stolz.

Verdi hat nach Bellini und Donizetti seine eigenen, anderen Kompositions-Schwerpunkte gesetzt – unverziert, hoch-emotionale Mittel der Melodik-Dramaturgie – ohne Revolution oder Reformstreben.
Es war stilistisch „dosierte“ Weiterentwicklung bei absolut gezielt musik-dramatischem und minimalistischem Einsatz von Koloraturen in Kadenzen oder orientalischen Charakterisierungen, die nun einem Rollenbild oder Musik-Zitaten dienten, kompositorisch zur Konturierung eingesetzt wurden, wie z.B. im Ernani, Don Carlos und Macbeth.

Verdi nutzt neue Kontraste der Charakterisierung in der Komposition, wie einfache Rhythmen unter einer großen Gesangslinie auskomponierter Emotion, im Aufbau dramatischer Szenen von Tragödien.
Nach italienischer Manier sollte die musikalische Sprache und Stimmgebung direkt „berühren“ und „unter die Haut gehen“.
Diese Art des emotionalen Stimulus kommt der ursprünglichen Forderung der Belcanto-Stilistik des 17.Jhrdt – nach „einem Gesang, den man (direkt) in der Seele spürt“ – sogar entgegen.

Verdis Mittel   i s t   die große Gesangslinie, die Art seiner musikdramatischen „Zeichnung“ und Charakterisierung, mit der Genialität kompositorischer Umsetzung eines großen Künstlers und Menschen.   (Hörbar in seiner Autobiographie Verdi – Link Audio)
Erst der Wendepunkt mit der Entwicklung der Operndramatik Verdis brachte neue Wege in der Opern-Musikgeschichte.
Es sind die musikalischen Schätze der Verismo-Opern mit der entsprechenden Forderung an die Gesangskultur von großen Interpreten, die zu Gesangslegenden wurden … eines Caruso, eines Pertile, einer Callas und natürlich … eines Corelli.

Ihre Petra Wolf-Perraudin