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Belcanto-Sänger … ja oder nein?

Zur Diskussion: Am Beispiel der beiden italienischen Tenöre und Stimm-Strategen Tito Schipa und Benjamino Gigli

Die sängerische Interpretationsweise des allseits geschätzten italienischen Tenors Tito Schipa hat die Belcanto-Fachwelt immer wieder zu hitzigen Diskussionen angeregt.

Ein Warum kann der folgende, differenzierte Blick aus der Sicht des Sänger-Profis und „Belcanto-Erfahrenen“ beantworten:

Tito Schipa, lyrischer Tenor – mehr im Repertoire des 18./19.Jhrdt zuhause – war ein bescheiden auftretender Sänger mit einer eher kleinen Stimme, dabei von legendärer Präsenz und einer Vielzahl von farbgebenden Gestaltungsmöglichkeiten.
Neben seiner außerordentlichen Musikalität besaß er die Fähigkeit zur Umsetzung seines Belcanto-Repertoires mit einer sehr speziellen kompensierenden Gesangs-Technik, die von Stimmträgern kleinerer Stimmen häufig eingesetzt wird.
D.h. anstelle einer rein tonlich konsequenten Umsetzung durch eine Belcanto-Gesangstechnik besaß Tito Schipa eine Gesangstechnik, die mehr über die Sprech-Steuerung geführt wurde, d.h. eher vom Sprechimpuls gesteuert.

Das Ergebnis war also eine weniger gesanglich konsequente Belcanto-Ausführungstechnik.
Wer mehrere deutsche Stimmtechniken und eine Belcanto-Technik praktisch nuanciert erlernt hat und detail-erfahren vergleichen kann, wird den Unterschied hören und die Umsetzungsweise durch die praktische Erfahrung genau erkennen. Bei der „Schipa-Technik“ handelt es sich um eine für diesen lyrischen Sängertyp eigene, individualisierte Sonderform der Gesangstechnik, die dem Stimmträger einer eher kleinen Stimme viele Vorteile verschafft. Da die Interpretation und das Stimmvermögen Schipas lediglich dem Belcanto-Ideal alter italienischer Schule und Gesangstechnik in den kurzen Arioso-Passagen der Ariosi ähnelt, kann das Gesangsergebnis Vertreter des Belcanto-Ideals alter Schule nur wenig zufriedenstellen.

Schipas großes Plus: Die Erweiterung seiner sängerischen „Palette“ durch eine differenziertere, variable Dynamik und vielfältiger Klangfarben seiner Pianissimi. Eigenschaften, die Stimmträger großer Stimmen auf diese Weise nicht ausführen könnten.
Schipa zeigt einen oberklangreichen, manchmal vom Körper gelösten, oft falsettierenden Stimmsitz, den er möglicherweise aufgrund des kleinen Stimmvolumens als lyrischer Tenor erarbeitete und so mehr Oberklangreichtum und mehr Differenzierung der leisen Töne für sich erreichte.

Schipas charakterisierende Dramatik jedoch, die sichere Höhe des Tenors, sein schönes Stimmtimbre, der Einsatz extrem vieler Stimmfarben und seine berührend intensive Darstellungsweise waren erfolgreiche Eigenschaften, die ihn trotz kleiner Stimme überzeugend und erfolgreich werden ließ – Geheimnis seines Gesangskarriereweges. Auf diese Weise gelang es Schipa sein Belcanto-Repertoire wunderbar überzeugend im Ausdruck und musikalisch berührend auf seine Weise zu transportieren.

Schipa war zweifellos ein toller Interpret, und bei Weitem nicht der Einzige, der als perfekter Stimm-Stratege seine sogenannten Schwächen gezielt zu neuen Stärken herausarbeitete. Er verstand es, seine individuell vorhandenen sängerischen Eigenschaften auch für das Belcanto-Repertoire der italienischen Oper individuell nutzbar zu machen und erfolgreich einzusetzen.

Die größere Stimme eines Spinto-Tenor besaß der Tenor-Zeitgenosse Benjamino Gigli, Vertreter dramatischeren Repertoires eines forscheren, temperament-vollen Stimmcharakters und Stimmfaches des jugendlichen Helden, der im Repertoire der italienischen und französischen Oper des 19. und beginnenden 20. Jhrdt. Stimmexpansion und Strahlkraft vereinen muss.

Für manchen Kenner war Gligli ein Vertreter des Zwischenfachs, weil er mit seinen Stimmeigenschaften, Einsatzfähigkeit und Stimmtechnik sowohl im lyrischen als auch dramatischen Repertoire der italienischen Oper überzeugte.

Kein Wunder, denn Gigli bediente sein Repertoire mit der Stimmführung eines lyrischen Tenors, der seine Stimme „in tongebundener Linie“ zu führen verstand.
Seine Art der sängerischen Umsetzung war nicht nur reinste und gekonnt ausgeführte Belcanto-Gesangstechnik, sondern darüber hinaus eine spezielle, sehr klug eingesetzte Sänger-Strategie.
In den dramatischeren Passagen des Spinto-Tenors, die in den Extremen des Verismo-Repertoires der Stimme viel abfordert, könnte der Tenor an Strahlkraft verlieren und damit die Stimmkraft-Reserven für nachfolgende Passagen gefährden.
Eine ausgleichende Strategie für den Erhalt von Stimmenergie-Reserven war für Gigli leicht, denn er verfügte auch über ein lyrisches Belcanto-Legato. Als Zwischenfach-Tenor bediente sich Gigli ganz einfach einer kräfteeinsparenden Form, der lyrischen Umsetzung dramatischer Passagen … ganz unabhängig vom Repertoire.

Mit seiner Linienführung fand Gigli Sicherheit der Stimmkontrolle und … was besonders bei Verismo-Partien des Spinto-Tenors wertvoll ist … die Bildung von Energie-Reserven, was Erhalt der Strahlkraft und Markenzeichen eines erfolgreichen Spinto-Tenors bedeutet.
Diese Strategie des Stimmeinsatzes war quasi seine stimmliche „Lebensversicherung“, denn sie bedeutete Stimmschonung und Stimmerhaltung zugleich.
Der Stimmstratege Gigli überschritt niemals die Grenzen sängerischer Machbarkeit. Sein Gesang zeigte meist lyrisches „Ebenmaß“ und wurde neben seinem besonderen Stimmtimbre zu seinem wiedererkennbaren „Markenzeichen“ – allerdings mit Folgen für die sängerische Überzeugungskraft der Rollendarstellung hinter der Arie.
Mitunter blieb der Gesamteindruck steif und „kühl“, was Verismo-Freunde des großen Operndramas wieder einmal nicht glücklich machte.

Beide Tenöre im Vergleich:

Schipa und Gigli, zwei italienische Tenöre mit Unterschieden in Stimmanlage, Stimmfach, Sängertypus und Persönlichkeit.
Zwei Tenöre und kluge Stimmstrategen mit individuellen Gründen der Kompensation.

Sängerisch liegen grundverschiedene Stimmanlagen, Stimmeigenschaften und Gesangstechniken vor und doch gab es Repertoire-Überschneidungen.

Wir erinnern uns:
Anstelle einer konsequenten Belcanto-Gesangstechnik lag der sängerische Schwerpunkt bei Tito Schipa, Stimmträger einer kleineren  Stimme, in der Dramatik auf dem Sprechimpetus mit  Sprechakzentuierung sowie Erweiterung der Piano-Stimmkultur.
Er setzte deklamatorische Schwerpunkte seiner Technik musikalisch bewusst ein, was die Wirksamkeit der leisen Töne dramaturgisch hebt und seinem kleineren Stimmnaturell zur mehr dramatischer Wirkung verhelfen konnte.

Benjamino Gigli dagegen, mit einer größeren Stimme und entsprechenden physischen Gegebenheiten begabt, war der großen Ton-Linie verpflichtet, was natürlich eine entsprechende Atem-Kapazität voraussetzt. Seine konsequente Belcanto-Gesangstechnik schien geradezu mit Belcanto-Attributen „verquickt“.

Beide Tenöre waren außergewöhnlich brillante Stimm-Strategen, die an ihren stimmlichen Gegebenheiten vollendet und adäquat ihre Kompensationsmittel überzeugend einsetzen.